22.09.2022
Wohlfühl-Wien

Das Architekturforum Schwyz auf Exkursion nach Wien

Warum fühlt man sich an einem Ort wohler als an anderen? Was beeinflusst die Aufenthaltsqualität von Räumen? Antworten auf diese Fragen versprach sich die Reisegruppe des Architekturforums Schwyz, die im Herbst 2022 nach Wien aufbrach – per Nachtzug notabene.
Unter den ausladenden Dächern des neuen Hauptbahnhofs aus der Feder des Zürcher Architekten Theo Hotz, strömt das erste Mal Wiener Luft in die Nasen der Reisegruppe. Angekommen im Hotel, konkret im hoteleigenen Kino, folgt eine Einführung in die Entwicklung der Stadt. Der Architekt Hermann Czech, Alt-Meister der Wiener Architektur, entführt mit seinen reichen Kenntnissen in die Geschichte der Donaumetropole. Er präsentiert Exkurse zum Stephansdom und zur Wiener Avantgarde um Architekten wie Adolf Loos beispielsweise, die das Wohnen vor hundert Jahren revolutioniert haben. Und Czech erinnert an die Visionen der Grossstadt vor hundert Jahren durch Architekten wie Otto Wagner, der mit seinen Entwürfen die Stadtbahn geprägt hat, deren Stationen in den kommenden drei Tagen in Wien immer wieder eine Rolle spielen sollten.
 
Avantgarde des Wiener Wohnens
Nach dem Vortrag nimmt der spätere Morgen zunächst in Form eines Spaziergangs seinen Lauf. Eva Kuss, die Biografin des Werks von Hermann Czech und Kennerin der modernen Heroen führt die Gruppe. Vorbei an Ring und Hofburg macht sie Halt vor dem Haus am Michaelerplatz. Von Adolf Loos entworfen, sorgte der nüchterne Bau einst für grosse Polemik, die heute – hundert Jahre später – nur noch schwer vorstellbar ist. Der frühmoderne Bau fügt sich ohne Aufhebens in das Mosaik der Innenstadtarchitektur ein. Vorbei an eleganten Geschäftshäusern der Jahrhundertwende steht ein Café-Halt auf dem Programm: In der legendären Loos-Bar, einem Kleinod, ebenfalls von Loos entwickelt. Darin lässt der raffinierte Einsatz von Spiegeln die räumliche Enge vergessen. Der Nachmittag führt zu einer Villa im Wiener Wald, entworfen von Hermann Czech, deren ungeahntes räumliches Erlebnis die Schweizer Reisegruppe ins Staunen versetzt. Nicht zuletzt, weil die Hauseigentümerin auf eindrückliche Weise erklärt, wie es sich darin komfortabel wohnen lässt.
 
Schwimmband als Wohlfühlfaktor
Was Wohnqualität im grossen Massstab bedeutet, veranschaulicht der Stadtplaner und Publizist Reinhard Seiss am nächsten Morgen und zeigt der Gruppe die Siedlung Alt-Erlaa des Architekten Harry Glück im Südwesten Wiens. In den 1970ern errichtet, geht der Grosssiedlung bereits ein legendärer Ruf voraus, ein positiver wohlvermerkt. Nicht allein, weil die Wohnanlage seither regelmässig bei den Umfragen zur Wohnzufriedenheit in Wien als Siegerin ausgemacht wird. Bei der Begehung wird schnell klar warum: Der Direktanschluss an die U-Bahn, der Zugang über eine intakte Shopping-Mall, die Rundum-Versorgung mit Ärztehaus oder Sportplätzen, oder das gepflegte grüne Wohnumfeld überzeugen. Und obendrauf kommen Dachterrassen samt Schwimmbad, die allen Bewohnerinnen und Bewohnern zugänglich sind.
 
Auch bei weiteren Wohnbauten, die auf dem Programm stehen, zeigt sich die gelungene Integration von Gemeinschaftsfunktionen. Schwimmbäder scheinen der Schlüssel fürs Wohlfühlen. Man trifft auf ein solches auch in der umgebauten Sargfabrik, heute ein
genossenschaftlicher Wohnbau, der 1996 bezogen wurde. Damals war dessen orangene Farbe noch eine Provokation. Heute ist die Anlage grün bewachsen, belebt und so beliebt, dass sie gar um ein Haus in der Nachbarschaft erweitert wurde. Nebst dem Schwimmbad gehören hier ein Kleintheater, ein Restaurant, die Bibliothek und zahlreiche Arbeitsplätze zum Programm.
 
Aktuelle Projekte reichen meist nicht an diese Qualität heran, wie Spaziergänge durch Sonnwendviertel aufzeigen, ein neues Quartier direkt am Hauptbahnhof. Meist fehlt das Händchen für eine gelungene Gestaltung. Eine Ausnahme bildet das Atelierhaus C21 des Architekten Werner Neuwirth. Errichtet auf einer Parzelle für einen Gewerbebau fand er die Möglichkeit, dank einer Lücke im Baugesetz, seine ineinander verschachtelten Raummodule auch für das Wohnen zur Verfügung zu stellen. «Atelierhaus» nennt er es. Und angesichts unserer Corona-Erfahrungen, bei dem die Grenzen zwischen Wohnen und Arbeiten fliessend geworden sind, ein Projekt der Stunde.
 
Kaffeehäuser und IKEA-Terrassen
Dass Wien auch in kulinarischer Hinsicht einiges zu bieten hat, ist freilich nichts Neues. Unter kundiger Führung von Gregor Eichinger, einst Architekturprofessor an der ETH Zürich, traf sich die Gruppe am Abend zu einem Rundgang durch angesagte Restaurants und Bars der Stadt. Allesamt waren die Gaststätten von Eichinger selber gestaltet: angefangen an der Hotelbar Ludwig, über Klassiker wie das Palmenhaus, bis schliesslich im Restaurant Lugeck der Tafelspitz wartete. Wie beim Wohnen zeigt sich auch in diesen Interieurs, wie man sich willkommen und wohl fühlt. Zahlreiche Details spielen dabei eine Rolle: Von der Wahl des Sitzpolsters, die Blickregie, über den sorgsamen Einsatz des Lichts bis zum Getränkeangebot.
 
Für die Wohnbedürfnisse der breiten Masse der Bevölkerung sind heute jedoch nicht mehr die feinsinnigen Meister der Wiener Werkstätte, sondern das breite Angebot von IKEA verantwortlich. Die blauen Gebäuderiesen mit gelber Schrift liegen meist am Rand der Städte – nicht so in Wien. Hier hat sich der schwedische Weltkonzern von der Stadt, mit sanftem Druck, überzeugen lassen, direkt neben dem alten Westbahnhof neu zu bauen. Entworfen hat die Weltneuheit das Wiener Büro Querkraft und wie im Namen schon anklingt, ist hier alles anders als üblich: Das Gebäude ist keine blaue Blechbox, sondern ein offenes Regal. Während sich im Inneren die allseits bekannten Produkte stapeln, kraxeln an der Fassade Pflanzen hoch – und mildern die Sommerhitze. Darüber hinaus ist dem Regal ein Hostel für ein junges Publikum aufgesattelt, was das Haus auch nach Ladenschluss belebt.
Bekrönt wird der Bau von einer Dachterrasse, die allen offen steht – auch das ein Zugeständnis des Global Players an die Stadt Wien. An der frischen Luft mit Weitblick über das Häusermeer lässt sich eine Idee davon gewinnen, wie sich angenehm leben lässt: Eine einladende Dachterrasse ist dafür sicherlich ein guter Anfang. – Roland Züger

Hier gehts zum Bericht im March Anzeiger, erschienen am 13. Januar 2023